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Universitätsbibliothek Mainz

06.01.2019

Kommilitonen! Institut für Publizistik befreit! Solidarisiert euch!

Mit diesen Worten beginnt das Flugblatt, mit dem die Fachschaft Publizistik am 5. Januar 1971 über die soeben erfolgte Institutsbesetzung informierte. Vorausgegangen war ein bereits über mehrere Jahre bestehender Konflikt mit der Institutsleiterin Prof. Elisabeth Noelle-Neumann um Lehrinhalte und Studienbedingungen.

Elisabeth Noelle-Neumann wurde 1964 auf Initiative Helmut Kohls als Professorin an die JGU berufen und leitete bis zu ihrer Emeritierung 1983 das Institut für Publizistik.

Die Pythia vom Bodensee

Fotografie mit Elisabeth Noelle-Neumann
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Universitätsarchiv Mainz

Eilsabeth Noelle-Neumann. Nicht nur eine herausragende Wissenschaftlerin, sondern auch eine Professorin, die stark polarisierte.

Noelle-Neumanns Karriere begann wie viele Karrieren dieser Zeit im Nationalsozialismus. Sie war in führender Position in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen und schrieb von 1940 bis 1942 als Redakteurin für das von Joseph Goebbels herausgegebene NS-Propagandablatt Das Reich. Nach dem Krieg gelang es Noelle-Neumann aufgrund hervorragender Verbindungen, ihre Karriere fortzusetzen. Für diese engen Kontakte zu den Größen des „Dritten Reichs“ wurde sie aber auch von ihren Studierenden immer wieder angegriffen. Bereits 1947 gründete sie mit dem Institut für Demoskopie Allensbach das erste, mit Repräsentativumfragen arbeitende Meinungsforschungsinstitut in Deutschland. Die Arbeit des Allensbach-Instituts, das sie bis 1996 leitete, war gekennzeichnet durch enge Kontakte zur Wirtschaft und deutliche Nähe zu den Unionsparteien. Durch diese Institutsgründung und ihr Buch „Die Schweigespirale“ stieg sie zu einer der führenden Kommunikationswissenschaftlerinnen der Bundesrepublik auf.

Die Verquickung der Tätigkeit Noelle-Neumanns als Universitätsprofessorin und Direktorin des Instituts für Publizistik mit ihrer profitorientierten Tätigkeit als Leiterin des Allensbach-Instituts stellte einen der Hauptvorwürfe der Studierenden dar. So habe sie ihre Aufgaben an der JGU zugunsten des Allensbach-Instituts vernachlässigt. Durch häufige Abwesenheit Noelle-Neumanns sei das Angebot an Lehrveranstaltungen der Publizistik erheblich eingeschränkt gewesen. Vor allem aber kritisierten die Studierenden, Noelle-Neumann nutze sie als billige Arbeitskräfte für das Allensbach-Institut aus. Tatsächlich war es Praxis, dass die Professorin Befragungen zu kommerziellen Aufträgen des Instituts von Studierenden im Rahmen des Studiums als sogenannte Methodenpraktika durchführen ließ.

Am 9. Dezember 1970 stellte die Fachschaft Publizistik daher der Institutsleiterin ein Ultimatum bis zum 5. Januar, mit der Forderung nach Einrichtung eines drittelparitätisch aus Professoren, Assistenten und Studierenden zusammengesetzten Institutsrats, der erstmals eine studentische Mitbestimmung in Bezug auf Studieninhalte und -bedingungen, Berufung von Lehrkräften und Haushaltsfragen gewährleisten sollte.

Befreit das Institut!

Nach Verstreichen dieses Ultimatums beschloss die Vollversammlung der Fachschaft Publizistik die Besetzung des Instituts, um ihre Fähigkeit zur Mitbestimmung unter Beweis zu stellen und die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen.

Alter Matrizendrucker
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Julo

Heute kaum noch vorstellbar, damals topmodern. So ähnlich könnte der Matrizendrucker des publizistischen Instituts ausgesehen haben.

Wie Prof. Peter Schneider, der Rektor der Universität, am 7. Januar 1971 an den Kultusminister berichtete, entwendeten Studierende im Anschluss an die Vollversammlung die Schlüssel aus der Tasche der Institutssekretärin, öffneten Aktenschränke, besetzten sämtliche Räume sowie die Telefonzentrale und benutzten die technischen Geräte des Instituts, unter anderem den Matrizendrucker, auf der dann auch das eingangs zitierte Flugblatt entstand. Schneider zeigte in seinem Bericht an den Minister Verständnis für die Anliegen der Studierenden, deren Forderungen bereits seit zwei Jahren bestünden. Noelle-Neumann komme aufgrund ihrer Arbeitsbelastung durch das Allensbach-Institut ihren Aufgaben an der JGU nur unzureichend nach. 

Er selbst habe den Studierenden zugesagt, sich für ihre berechtigten Forderungen einzusetzen.Am 8. Januar beschloss die Vollversammlung, dem ausgehandelten Ergebnis, der Einsetzung einer Fachkommission Publizistik, zuzustimmen und die Institutsbesetzung zu beenden. Diese Fachkommission wurde, abweichend von den ursprünglichen studentischen Forderungen, mit Professoren, Assistenten und Studierenden nicht drittelparitätisch, sondern im Verhältnis 2:1:1 besetzt und sollte für die Übergangszeit bis zur bevorstehenden Hochschulreform die studentische Mitbestimmung gewährleisten.

„Institut für Publizistik befreit!“ - Das Pathos des Flugblattes vom Tag der Institutsbesetzung mag aus heutiger Sicht albern erscheinen. Schließlich ging es nicht um die Weltrevolution, sondern „nur“ um eine Verbesserung der Studienbedingungen. Dass aber genau das Noelle-Neumann nicht verstehen konnte oder wollte, wird deutlich in ihrer Stellungnahme vom 18. Januar, in der sie sich als Opfer einer Verleumdungskampagne linksradikaler Publizistikstudenten darstellte, die, so Noelle-Neumann, studentische Mitbestimmung forderten, um am Institut die marxistische Wissenschaft einzuführen.

Was bleibt

Durch die Hochschulreform von 1972 und die Abschaffung der Fakultäten erfolgte an der JGU eine grundlegende Neustrukturierung. Heute ist das Institut für Publizistik im Fachbereich 02 (Sozialwissenschaften, Medien und Sport) angesiedelt.

Mit ihrer Prognose zu den Auswirkungen studentischer Mitbestimmung kann Noelle-Neumann, die „Pythia vom Bodensee“, aus heutiger Sicht uneingeschränkt als widerlegt betrachtet werden: Die marxistische Wissenschaft wurde weder am Institut für Publizistik noch in einem anderen Bereich der JGU eingeführt.

Regine Staaden
Regine Staaden

Regina Staaden studiert Geschichte MA an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und schrieb diesen Artikel im Rahmen der Übung "Archivnutzung für Historikerinnen und Historiker" im Sommersemester 2018.

Mo, 21.10.2019 - 10:55 | Gast (nicht überprüft)

In der Klemme ...
Wenn ich mich an diese Zeit, die ich als Studerntin miterlebte, richtig erinnerne, war die Universitätsleitung aber auch in der Klemme. Einserseits hatte der liberale Präseident (Rektor?) durchaus Sympatie für die Studierenden. Andererseits wollte er unbedingt einen (möglicherweise eskalierenden) Polizeieinsatz auf der Uni verhindern. Als praktische Ermahnung, das Institut wieder zu verlassen, wurde auch vorübergehend die Heizung ausgestellt.
Dass einer der Wortführer der Besetzer gerade von einem Studienaufenthalt in Moskau zurückgekommen waren, mag die Sorgen von Noelle damals mit begründet haben. Der Sekretärin wurde die Handtasche mit Gewalt weggenommen - auch nicht so menschenfreundlich. Alle suchten dann nach meiner Erinnerung in den Akten (im "Stahlschrank") irgendetwas Anklagenswertes über sich selbst - fanden aber nichts... Dass einer der Besetzer bei einem späteren Symposion für Noelle als Redner (er war inzwischen selbst Professor) ihr noch flammende Vorwürfe machte, mag aufscheinen lassen, wie emotional die Diskussion damals von vielen Seiten geführt wurde.

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