Musterbücher für Grafikdesign gibt es seit dem Hochmittelalter. Am Konzept hat sich bis heute wenig verändert: Es handelt sich um Kataloge zur Visualisierung und Kommunikation von Ideen und Konzepten zwischen Grafiker:innen einerseits und Kund:innen andererseits. Was verrät uns der Blick in solche „veraltete“ historische Gebrauchsliteratur?
Im Fokus stehen zwei Bände der Hermann Schött Actiengesellschaft aus Rheydt (NRW) von 1938 und ein Band der Gebrüder Jllert G.m.b.H. aus Klein-Auheim (Hessen) von 1934. Beide Firmen hatten sich auf den Druck von Getränkeetiketten spezialisiert: Sekt-, Importgetränke-, Schnaps- und Saftetiketten waren fester Teil der Sortimente. Im Fokus stand aber vor allem der Wein und sein Etikett.
Weinetiketten können faszinierende Geschichtsquellen sein. Sie sind als Ausdrucksmittel ihrer Zeit nicht nur Verpackungs- oder Werbematerial, sondern auch kulturgeschichtliche Dokumente. Mit dem richtigen Blick können sie uns Auskunft darüber geben, wie die Welt zum Zeitpunkt der Etikettengestaltung ausgesehen haben mag. Ihre Betrachtung schärft und erweitert unser Verständnis früherer Generationen. Ein Musterbuch gibt darüber hinaus Einblicke in vergangene Werbestrategien – oder wie die Gebrüder Jllert G.m.B.H. es formulierten: „[…] unsere Muster sind anerkannt erstklassig und tausendfach erprobt. Ein Risiko ausgeschlossen. Aber der Erfolg gewiß.“

Zunächst aber einen Schritt zurück: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam das gedruckte Flaschenetikett auf. Während anfangs noch einfache Ornamentik dominierte, erprobte man spätestens ab 1900 die künstlerischen Möglichkeiten. Etiketten vor den 1950er Jahren waren dabei noch keine Konsum-Etiketten, wie sie uns heute begegnen. Bei diesen ist der Blickfang im Supermarkt innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde zum obersten Gebot geworden. Vielmehr waren die Etiketten damals Visitenkarten der Weinproduzenten. Sie standen damit für die Qualität ihrer Produkte ein und konnten potenzielle Kundschaft gezielt ansprechen.
Die Etikettengestaltung selbst ist so vielfältig wie die Kunst. Kunsthistorische Betrachtungen nach üblichen Stilepochen wurden allerdings immer wieder von politischen Ereignissen überlagert – so auch bei den ausgestellten Musterbüchern.
Zur nationalsozialistischen Zeit ab den 1930er Jahren, also als die Bücher produziert wurden, lässt sich auf deutschen Weinflaschen ein starker Trend zum Historistisch-Mythologischen nachvollziehen. Diese nationale Notlösung der Grafiker wird selten auch als „Germanischer Stil“ bezeichnet. Er reichte vom romantisierten Bauerntum bis hin zur vaterländischen, geradezu pathetischen Kriegsbegeisterung. Ausdrucksstarke Farben und klare Linien wurden mit vielfältigen historischen Entlehnungen gemischt, vor allem mit „altgermanischen“ Szenen, Rittern, Landsknechten, fleißigen Bauern und heraldischen Fantasiemotiven.
Die Verlagsmuster in den Büchern waren allerdings lediglich eine Auswahl. Alle Bücher haben zahlreiche Ausschneidungen und handschriftliche Ergänzungen. Es ist klar, dass die Musterbücher als Kommunikationsmittel und Arbeitsmittel angesehen wurden. Teilweise wurde auf den leeren Rückseiten – eventuell im Rahmen von Kundendialogen, wahrscheinlich aber eher durch den späteren Besitzer – ganz andere Konzepte skizziert.
Rückseitige Skizzen für ein Weinetikett mit der Oppenheimer Katharinenkirche als Motiv.

In anderen Fällen wurden die Muster eins zu eins übernommen. Ein solches Beispiel ist das Musteretikett „Binger Rochusberg“ der Schött AG, welches als 1938er Liebfrauenmilch in Umlauf kam.
Musteretikett der Firma Schött und ein darauf basierendes rheinhessisches Weinetikett für 1938er Liebfrauenmilch
Das Gemälde im Zentrum des Etiketts ist eine Chromolithographie. Dieses Druckverfahren wurde auf Weinetiketten vor allem zur Reproduktion von historischen Gemälden eingesetzt. Beim vorliegenden Motiv handelt es sich um einen neuinterpretierten Ausschnitt aus „Die Rast des Reisenden“ des niederländischen Genremalers Jan Havickszoon Steen (1626-1679) – allerdings mit „verschönerten“ Figuren und einem größeren Blickfokus auf dem konischen Weinglas.
Um 1900 galt Liebfrauenmilch aus Worms als international renommierte Marke. In den folgenden Jahrzehnten nutzten Weinexporteure den Begriff für eine Vielzahl von Weinen. Dadurch wurde die Marke zum Pseudonym für billigen Supermarktwein. Die Rückbesinnung auf dieses historische Gemäldemotiv eines Etiketts „von der Stange“ vermochte das vermutlich nicht zu verschleiern.
Übrigens: Wer genau hinschaut, findet – auch heute noch – auf fast jedem Weinetikett in ganz dünner Schrift in einer Ecke den Hinweis auf die verantwortliche Grafikfirma.
Literatur
- Thielen, Johann: Zur Geschichte des deutschen Weinetiketts (=Schriften zur Weingeschichte, Sonderheft 1). Wiesbaden 1975.
- Emde, Barbara; Thielen, Johann: Schöne alte Etiketten. Dokumentation. In: Weinfreund 3 (1977). Frankfurt am Main 1978, S. 40-41.
- Müller, Hermann-Dieter: Weinetiketten - Ausdrucksmittel ihrer Zeit. In: Gonsenheimer Jahrbuch 9 (2001). Mainz-Gonsenheim 2002, S. 114-118.
- Kehr, Walter: Wein und Kunst vereint auf Flaschenetiketten. Edler Rheingauer Riesling verdient zum Kunstobjekt zu werden. In: Heimatjahrbuch des Rheingau-Taunus-Kreises 37. Eltville 1986, S. 167-169 und 171.
- Bischof, Steffen: Das Etikett im Wandel des Geschmacks. In: Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen 45. Idar-Oberstein 2001, S. 83-86.
- Henker, Michael: Von Senefelder zu Daumier. Die Anfänge der lithographischen Kunst. (=Veröffentlichung zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 16). München 1988.