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Universitätsbibliothek Mainz

23.05.2019

Nicht ohne mein Grundgesetz oder: Bekenntnis zu einem Buch, das kaum einer gelesen hat

Jeder von uns kennt Art. 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Aber ansonsten? Hand aufs Herz, könntet ihr alle Grundgesetzartikel aufzählen? Ich jedenfalls nicht. Dabei wirken sie sich auf unseren gesamten Alltag aus – auch auf den an der JGU. Wie sich anhand meiner eigenen Unilaufbahn – vom Studienstart bis zum Promotionsstudium – leicht zeigen lässt.

Vor 70 Jahren wurde ein Dokument unterzeichnet, das bis heute maßgeblichen Einfluss auf unser gesellschaftliches Miteinander in Deutschland hat. 70 Abgeordnete des Parlamentarischen Rates – darunter gerade mal vier Frauen – hatten acht Monate an seiner Ausarbeitung gefeilt. Die Rede ist vom Grundgesetz, der Grundlage der demokratischen Ordnung und Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Man wollte aus den Fehlern der Weimarer Republik und den zwölf Schreckensjahren des NS-Regimes lernen: Die Bundesrepublik berief sich besonders auf die Wahrung der Menschenrechte, wollte sich als Teil der Weltgemeinschaft für Freiheit und Frieden einsetzen. Man stellte dem Grundgesetz daher 19 Grundrechte voran. Aber was hat das mit mir zu tun?

„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ (Art. 12 Abs. 1)

Hand hält Grundgesetz mit Blick auf Uni-Forum
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Während meiner Schulzeit war mir schon früh klar, dass ich einmal studieren möchte. Nur was und wo stand zunächst noch nicht fest. Die Entscheidung lag ganz bei mir. Höchstens mein Abi-Schnitt hätte mir bei der Wahl des Studienfachs einen Strich durch die Rechnung machen können. Mein Kindheitstraum war es gewesen, Meeresbiologin zu werden. Dank Art. 12 Abs. 1 konnte ich Biowissenschaften an der TU Kaiserslautern studieren. Als ich aber merkte, dass ein naturwissenschaftlicher Studiengang doch nichts für mich ist, wechselte ich nach Mainz zum buch- und geschichtswissenschaftlichen Studium. Alles kein Problem, denn schon bei der Studienorts- und Berufswahl sichert uns das Grundgesetz 

Das war jedoch nicht immer so, vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik: Zwar wurde bereits in der ersten Fassung des Grundgesetzes die Gleichberechtigung von Frauen und Männern verankert (Art. 3 Abs. 2). Frauen brauchten dennoch bis in die 1970er-Jahre eine Einwilligung ihres Vaters oder Ehemanns, um zu studieren. Im Sommersemester 1947 wurde an der JGU sogar für eine kurze Zeit eine Quote eingeführt, damit die Anzahl der weiblichen Studis einen gewissen Prozentsatz nicht überstieg. Aber auch meine männlichen Mitschüler konnten nach dem Abi nicht ohne Weiteres ins Studium ihrer Wahl durchstarten. Aufgrund von Art. 12a Abs. 1 mussten diejenigen, die nicht ausgemustert worden waren, zunächst zum Bund oder, falls sie von ihrem Kriegsdienstverweigerungsrecht (Art. 4 Abs. 3) Gebrauch gemacht hatten, den so genannten Zivildienst absolvieren.

„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ (Art. 5 Abs. 3)

Schon mit der Einschreibung kam ich in den Genuss einer Reihe von Freiheiten, ohne dass es mir bewusst war. Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3) wirkt sich auch auf das Studium aus. Doch was bedeutet das konkret für meinen Studienalltag? Am Bologna-Prozess wurde immer wieder kritisiert, er habe zu einer „Verschulung“ der Studiengänge geführt. Trotzdem konnte ich Veranstaltungen im Rahmen der Studienordnung selbstbestimmt wählen. Art. 5 Abs. 3 ermöglichte mir sogar, meinen Schwerpunkt auf buchhistorische Themen zu setzen.

Arbeitsplatz mit Laptop
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Aufgrund der Lehrfreiheit konnten meine Dozierenden wiederum ihre Seminare frei gestalten und ihre Meinung frei äußern, solange sie nicht verfassungsfeindlich war. Der freie Zugang zu Informationen erlaubte mir umfangreiche Recherchen zu wissenschaftlichen Themen und war somit zentraler Bestandteil meines Studiums. Die Informationsfreiheit ließ zu, dass ich mich mit unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auseinandersetzte. So konnte ich einen eigenständigen wissenschaftlichen Standpunkt entwickeln. Die Forschungsfreiheit, last but not least, ist zudem Voraussetzung dafür, dass ich Fragestellung und methodisches Herangehen meiner Doktorarbeit unabhängig von politischer Wetterlage sowie Interessen Dritter wählen und dank der Meinungsfreiheit frei formulieren und publizieren kann.

„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ (Art. 8 Abs. 1)

Demonstrierende Menschen
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Wenn wir Studierende mit dem Unisystem nicht zufrieden sind, können wir uns auf verschiedene Grundrechte berufen. Die Meinungsfreiheit ermöglicht uns Kritik zu äußern (Art. 5 Abs. 1); wir können uns auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht berufen (Art. 8 Abs. 1); falls wir uns in unseren Grundrechten verletzt fühlen, steht uns sogar die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht offen (Art. 19 Abs. 4). Ich selbst nahm beispielsweise 2009 am Bildungsstreik teil, um gegen die Missstände der Bachelor- und Masterreform zu protestieren. Des Weiteren berechtigt das Grundgesetz zur Bildung von Interessensgemeinschaften (Art. 9 Abs. 3). Für die Belange der Studis setzen sich u. a. die Fachschaften bzw. universitäre Gremien an der JGU ein. Dort können wir bspw. über Änderungen von Studienordnungen oder die Berufung von Professorinnen und Professoren mitbestimmen.

Durch das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 2) beeinflussen wir auf Landes-, Bundes- sowie EU-Ebene die Bildungs- bzw. Wissenschaftspolitik. Dank dieser Politik konnte ich nicht nur in Rheinland-Pfalz gebührenfrei studieren, sondern auch die ersten beiden Jahre meiner Promotion durch die Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz finanzieren. Leider wurden deren Stipendien mittlerweile eingestellt. Aber das ist ein anderes Thema... Apropos, am Sonntag stehen ja die Europawahlen an: Das Erasmus-Programm ermöglichte mir ein Auslandssemester in den Niederlanden. Eine der besten Erfahrungen meiner Unilaufbahn!

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1)

Aber die Verfassung wirkt sich natürlich auch über den universitären Alltag auf unser Leben aus. Stelle Dir vor, du schaust gerade zu Hause, nach einem langen stressigen Uni-Tag, eine deiner Lieblingsserien an – und plötzlich steht die Polizei vor der Tür, um deine Wohnung auf den Kopf zu stellen. Art. 13 Abs. 1 verhindert das, selbst wenn dein letzter Tweet etwas zu offen und ehrlich gewesen sein sollte: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Zumindest so lange die Durchsuchung nicht richterlich angeordnet wurde, weil du wirklich Mist gebaut hast.

Bildschirm mit Gilmore Girls
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Dass gerade Gilmore GirlsParks and Rec oder bspw. Game of Thrones zu meinen Lieblingsserien gehören, dafür kann das Grundgesetz natürlich nichts. Oder höchstens indirekt. Denn es sichert mir die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1). Das gilt übrigens auch für meine Vorliebe für Punk- und Post-Hardcore-Konzerte, deutsch- und englischsprachige Gegenwartsliteratur oder True-Crime-Dokus. Ich brauche keine Angst zu haben, deswegen benachteiligt zu werden.

Frei entfalten kann ich mich natürlich auch außerhalb der eigenen vier Wände. An der Uni können sich alle Angehörigen der JGU entsprechend ihrer Interessen, Überzeugungen oder Weltanschauungen verwirklichen – sofern sich das Ganze im Rahmen des Grundgesetzes bewegt. So gibt es zahllose politische, religiöse, kulturelle und sportliche Hochschulgruppen, in denen man sich einbringen kann. Art. 9 Abs. 1 des Grundgesetzes gibt uns das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen, im Fall der Uni bspw. Flüchtlingsinitiativen, Studentenverbindungen, Unterstützungsvereine für Arbeiterkinder oder den Verein der Freunde der Universität.

Die Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1) erlaubt es uns, über den Alltag an der Uni zu berichten und das auch mal kontrovers. Ein Beleg hierfür sind die verschiedenen Studierendenpublikationen. Das Recht auf individuelle Persönlichkeitsentwicklung hält uns gleichzeitig dazu an, tolerant gegenüber abweichenden Interessen, Einstellungen oder Lebensmodellen zu sein. So heißt es ebenfalls in Art. 3 Abs. 3 explizit, dass niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf.

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ (Art. 3 Abs. 2)

Und was bringt die Zukunft? Nach Abschluss meiner Promotion werde ich erneut vor der Wahl stehen: Bleibe ich an der Uni oder werde ich mir einen Job in einem anderen Bereich suchen? Bei den Bewerbungsverfahren bin ich entsprechend des Grundgesetzes gegenüber identisch qualifizierten männlichen Mitbewerbern mindestens gleichgestellt. Dass wir in dem Punkt noch nicht am Ziel angekommen sind, sieht man z. B. an der unterschiedlichen Bezahlung von Frauen und Männern oder des Männerüberhangs in den Führungsetagen vieler Unternehmen. Aber auch in der Geschichte der JGU konnte lange Zeit von einer Gleichstellung von Frau und Mann in Wissenschaft und Lehre nur bedingt die Rede sein: Anders als heute, gab es in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens fast keine ordentlichen Professorinnen.

Gemacht für die Ewigkeit?

Protestbanner mit Aufschrift Wir sind viele
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Nichts hält länger als ein Provisorium – diese Alltagsweisheit greift auch beim Grundgesetz. Seine Mütter und Väter hatten vor 70 Jahren nicht damit gerechnet, dass es so lange Bestand haben würde. Ausgelegt für die Zeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, ist es bis heute in Kraft als Fundament für ein Deutschland, das als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ dient. Bis auf die Zeit der RAF wurde unsere Verfassung auch noch nicht wirklich auf den Prüfstand gestellt, nicht zuletzt dank der anhaltenden stabilen wirtschaftlichen Lage.

Doch in den letzten Jahren sind in Deutschland Stimmen lauter geworden, die das Parteiensystem, die Meinungs- und Pressefreiheit, das Asylrecht und sogar die demokratische Grundordnung insgesamt in Frage stellen. Und auf globaler Ebene stellen Phänomene wie der Klimawandel, die Digitalisierung oder Flüchtlingsströme das Grundgesetz zusätzlich vor neue Herausforderungen. Wie kann es geschützt werden?

Die Antwort liefert die demokratische Grundordnung im Grunde selbst: Indem wir das Grundgesetz in jeder Lebenssituation, im Alltag wie bei Wahlentscheidungen, leben und verteidigen. Denn so lange das Grundgesetz nicht selbst im Sinne des Art. 146 durch eine andere Verfassung ersetzt wird, können die Grundprinzipien des Grundgesetzes auch nicht durch parlamentarische Mehrheiten geändert werden (sog. „Ewigkeitsklausel“, Art. 79 Abs. 3).

Also: Geht wählen!

Stefanie Martin
Stefanie Martin

Stefanie Martin arbeitet in der Bereichsbibliothek MIN.

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