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Universitätsbibliothek Mainz

13.07.2022

Die Bibliothek Alexandria

Im antiken Hafen der Stadt Alexandria legt ein Schiff an. Erschöpft von strapaziösen Tagen auf hoher und ungewöhnlich wilder See, schicken sich die ermüdeten Besucher an, an Land zu gehen. Doch sie werden von einem grimmig dreinblickenden Beamten des Königs Ptolemaios II. zurückgehalten. Auf seinen Befehl hin wird jedes ankommende Schiff durchsucht. Was die Beamten finden, macht die Stadt zum Mythos.

Mehr als ein Dutzend sorgfältig in griechischer Sprache beschriebene Papyrusrollen, denen die feuchte Luft des Mittelmeers noch nicht zugesetzt hat, ruhen in einer unauffälligen Holztruhe. Mit geübtem Griff lässt der Vertreter des Königs diesen Schatz in eine eigens hierfür vorgesehene Tasche gleiten und schreitet dem Tageslicht entgegen – entschlossen, die Rollen noch heute an jenen Ort zu bringen, den Theodotos in George Bernard Shaws Caesar und Cleopatra als „Gedächtnis der Menschheit“ bezeichnet: die antike Bibliothek Alexandria.



Auch wenn über 2.000 Jahre später keine physischen Spuren dieses hellenischen Zentrums des Wissens und der Forschung mehr erhalten sind und die Althistorikerinnen und Althistoriker auch nicht sicher sagen können, wo genau sich die Bibliothek in der ptolemäischen Hauptstadt befand, steht sie sinnbildlich für den verblichenen Glanz ruhmreicherer Tage, als die Stadt noch kosmopolitischer Wissenshub war. Mit der Feuersbrunst, der die Bibliothek zum Opfer gefallen sein soll, assoziiert die heutige Bevölkerung den Beginn einer dunklen Periode in der langen Geschichte der Stadt.

Innenansicht der Bibliothek in Alexandria
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Wie ein Phoenix aus der Asche: Die Wiederauferstandene

Hellere Zeiten brachen in diesem Sinne 2002 an: Der eingeweihte Neubau der Bibliothek wirkt wie ein Erinnerungsort für längst Vergangenes. Gleichzeitig präsentiert er sich wie eine programmatische Inkarnation einer an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts angepassten Neuinterpretation der Vorgängerin. Inwiefern unterscheidet sich das Neue vom Alten? Mit dieser Frage im Gepäck bahne ich mir an diesem frühen Dienstagnachmittag meinen Weg durch den ägyptischen Verkehr. An der Corniche, der Uferpromenade und Lebensader der Stadt angekommen, taucht das scheibenförmige Gebäude vor mir auf, das heutzutage ein Kulturzentrum mit Museen und Galerien sowie Forschungsinstituten und Veranstaltungszentren umfasst.

Mittlerweile sind die kulturellen Veranstaltungen im Arts Center der Bücherei zum Inbegriff der Bibliotheca für die lokale Bevölkerung geworden. Außerdem erfreut sich die Kinderbibliothek mitsamt ihrer verschiedenen Lern- und Spielangebote großer Beliebtheit und ist aus dem Repertoire der heutigen Einrichtung nicht mehr wegzudenken. Das Angebot für die kleineren Alexandrinerinnen und Alexandriner kommt insbesondere bei Familien der unteren Mittelschicht gut an.



Auch mir gewährt die Bibliothek an diesem Dienstag am frühen Nachmittag Einlass. Einen kurzen Moment fürchte ich, dass mir das Sicherheitspersonal beim Durchschauen meiner Tasche meine Weglektüre abnimmt, um sie dem Bestand der Bibliothek einzuverleiben. Diese Angst ist aber unbegründet. Ein erstes Anzeichen, dass hier einiges anders läuft als noch zur Zeit des Königs Ptolemaios II.

Vom Wissenszentrum zum „Dritten Ort“

Damit befindet sich die Bibliothek am Puls der Zeit und erfüllt die Erwartungen, die Besucherinnen und Besucher an moderne Bibliotheken stellen. Es geht längst nicht mehr um die reine Speicherung, Wahrung von Wissen in Form von analogen Büchern: Bibliotheken spielen ebenso eine Rolle als Ort der Begegnung. Sie wurden zu etwas, das der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg den „dritten Ort“ nannte. Räume im öffentlichen Leben – also zum Lernen, Arbeiten und für den kommunikativen Austausch.



„Ich sehe das als etwas Positives, weil wir den Kulturbegriff hier nicht so eng verstehen.", kommentiert Manar Badr, die seit 21 Jahren in der Bibliothek tätig ist. Sie erinnert sich daran, dass das aber nicht von Anfang an der Fall war: Die Bibliothek von Alexandria sei ursprünglich eher als Universitätsbibliothek konzipiert worden, deren Nutzerinnen und Nutzer vor allem akademisches Lehrpersonal und Studierende sein würden.



Zwar hat sich diese Vorstellung im Laufe der Jahre geändert, doch werde die Bildungseinrichtung von einem Großteil der örtlichen Bevölkerung immer noch als „Eliteprojekt“ wahrgenommen: „Viele Menschen wissen gar nicht, dass hier jeder und jede rein darf“, erzählt Manar Badr. Auch deswegen gibt es unterschiedliche so genannte Outreach-Programme, wie zum Beispiel einen Bücherbus oder Wettbewerbe an Schulen.

Von Grund auf mehrsprachig

In einem weiteren Punkt unterscheidet sich die neue Bibliotheca von ihrer Vorgängerin: Während sie sich in der Antike als rein hellenistisches Wissenszentrum verstand und der Bestand weitgehend griechischsprachig war, öffnet sich die Institution heute allen Sprachen. Das Gros des ungefähr zwei Millionen Publikationen umfassenden Bestands machen allerdings Arabisch, Englisch und Französisch aus.

Warum das so ist, erklärt mir meine Interviewpartnerin: „Von Anfang an wollten wir, dass die Bibliothek trilingual aufgestellt sein sollte.“ Dieses Anliegen konnte auch durch großzügige Schenkungen der französischen Nationalbibliothek, die in Containern im Dezember 2009 in Alexandria eintrafen, verwirklicht werden. In diesen Containern befanden sich Belegexemplare jeglicher im Zeitraum von 1996 bis 2006 in Frankreich publizierten Schriften. Heute zählt sie zu einer der größten frankophonen Bibliotheken weltweit. Übrigens zeigten sich die französischen Besatzungsbehörden auch beim Wiederaufbau der Universitätsbibliothek Mainz 1946 von ihrer großzügigen Seite und unterstützen die hiesige Einrichtung mit einer Bücherspende.

Leichte Sprache, leichter Zugang

Um Sprache geht es auch in einem der unzähligen in der Bibliothek angebotenen Projekte und Fortbildungen, das Badr besonders am Herzen liegt: Sie leitet Alphabetisierungskurse, die grundsätzlich für alle zugänglich sind. Aktuell nehmen aber insbesondere Angestellte der Bibliothek daran teil. Damit diese ihre Lesefertigkeiten auch aktiv anwenden können, bemüht sich Badr auch darum, Bücher in leichter arabischer Sprache zu erwerben. Während sie mich durch den überschaubaren, aber thematisch vielseitigen Bestand führt, berichtet sie, dass es kein leichtes Unterfangen ist, an solche Bücher zu kommen. „Es gibt da noch kein so großes Bewusstsein, wie beispielsweise im deutschsprachigen Raum.“ In Deutschland gibt es bereits seit 2006 das Netzwerk Leichte Sprache, das mittlerweile auch etwa deutsche Ministerien dabei unterstützt, Angebote in Leichter Sprache zu erstellen.

Zwar ist das in Ägypten noch nicht der Fall, aber auf ein Exemplar ist Frau Badr dann aber besonders stolz.  Wir stehen vor einer Geschichtensammlung, die vom Leben und Wirken unterschiedlicher Propheten berichtet und das im ägyptischen Dialekt. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens werden die meisten arabischsprachigen Bücher im modernen Standardarabisch geschrieben. Die unterschiedlichen regionalen Dialekte haben noch nicht den Status einer „Hochsprache“ inne, was das Lesen und Verstehen schriftlicher Texte im Allgemeinen verkompliziert. (Das Buch Taxi Kairo beispielsweise wurde von ägyptischen Literaturexpertinnen und -experten kritisiert, weil es im ägyptischen Dialekt verfasst wurde.)

Und Zweitens: Hocharabisch spielt als Liturgiesprache eine einzigartige und bislang unangefochtene Rolle. Die im Koran niedergeschriebene Botschaft Gottes ist eng mit der hocharabischen Sprache verbunden. Aus diesem Grund lernen nichtarabischsprachige Musliminnen und Muslime weltweit das arabische Alphabet, um den Koran in der Sprache zu lesen und zu rezitieren, in der er dem Propheten Mohammed offenbart wurde.

Barrierefrei, so Corona will

Wer die prophetische Geschichtensammlung aus dem Bereich Leichte Lektüre lesen möchte, der konnte das vor Corona ganz bequem, da die Bibliothek über einen sehr großen Freihandbestand verfügt. Dadurch strahlt die Bibliothek Offenheit aus, die die Berührungsängste einiger Nutzerinnen und Nutzer verringern kann. Man bekommt das Gefühl, die Bibliothek ist für alle da. Der Großteil der Bücher ist frei zugänglich. Alles ist ganz einfach: Durch die Regale schlendern und Buch aussuchen. Über sieben Stockwerke hinweg ist alles thematisch geordnet.

Leider hat Corona dieser offenen Atmosphäre einen Riegel beziehungsweise rot-weiße Absperrungsbänder vorgeschoben: Aktuell muss man die gewünschten Exemplare im Lesesaal bestellen.
Dass die Einrichtung den Anspruch verfolgt, möglichst für jeden und jede zugänglich zu sein, sehe ich ganz konkret, als ich die Blindenbibliothek betrete. Neben einem Bestand an barrierefreien Publikationen bietet diese Abteilung auch Aktivitäten für Menschen mit Sehbehinderungen an. Das kommt gut an: „So was spricht sich rum“, antwortet mir Frau Badr auf die Frage hin, ob sich denn genug Interessierte für solche Projekte finden ließen.

Gebaut für die Ewigkeit?

Unser Rundgang in der Bibliothek endet in jenem Flügel des Hauses, in dem die vielen Museen angesiedelt sind, etwa das Sadat-Museum. Um diese Uhrzeit, es ist mittlerweile halb fünf, sind diese geschlossen, was bei mir abermals den Eindruck bestätigt: Um die gesamte Vielfalt der Bibliothek von Alexandria erfahren und fassen zu können, reicht ein Tag nicht aus. „Wie gut, dass ich noch eine Weile in Alexandria bin“, denke ich mir, als ich meinen Besuchsausweis, der für meinen Blick hinter die Kulissen notwendig war, an der Sicherheitskontrolle abgebe.



Eine Weile setze ich mich noch an die Corniche und betrachte das imposante Gebäude, das auf mich den Eindruck macht, die nächsten 2000 Jahre überstehen zu können.

Außenansicht der Bibliothek Alexandria
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