Direkt zum Inhalt

Universitätsbibliothek Mainz

11.05.2021

Der Gründungsrektor und seine Goldgrube

Anfang Mai vor 75 Jahren steckte die JGU in den letzten Vorbereitungen für ihre Eröffnung. An einem Ort, an dem wenige Monate zuvor noch der Zweite Weltkrieg gewütet hatte, sollte am 22. Mai 1946 nun eine Hochschule ihre Tore öffnen. Wie war so etwas möglich? In zahlreichen Aktivitäten rund ums Jubiläum liefert das Uniarchiv die Antworten.

Josef Schmid mit Hut
Mehr...

Josef Schmid

Am Morgen des 11. Mai 1946 herrschte emsiges Treiben in der Mainzer Oberstadt – und das ausgerechnet an einem Samstag. Im Keller eines bombenbeschädigten Hauses war zwischen Geröll und Bauschutt das provisorische Rektorat der JGU eingerichtet worden. Umgedrehte Kisten dienten als Schreibtische. Dabei sollte die Wiedereröffnung der Mainzer Uni schon in ein paar Tagen stattfinden.

Josef Schmid war zufrieden, als er während einer kurzen Pause vom Bau des akademischen Elfenbeinturms seinen Blick in die Tageszeitungen warf. In den meisten war ein wohlwollendes Porträt des Gründungsrektors der JGU gezeichnet worden. Was vermutlich nicht zuletzt daran lag, dass er den zugrundeliegenden Text selbst abgenickt hatte, wenn man Unihistoriker Helmut Mathy glaubt.

Habemus Unistandort

Nachdem der Geograf die Zeitung zugeschlagen hatte, widmete er sich wieder seiner schier endlosen To-do-Liste, auf der er aber schon einige Punkte abgehakt hatte. Dass er sich überhaupt mit ihr befassen konnte, hatte seinen Grund in der wechselhaften deutsch-französischen Geschichte. Inoffiziell galt das Projekt – eine Hochschule im nördlichen Teil ihrer Besatzungszone zu eröffnen – seitens der Franzosen als Wiedergutmachung für die während der Zeit Napoleons geschlossenen linksrheinischen Unis. Gleichzeitig war es ein Novum: Eine Besatzungsmacht besetzt nicht nur, sondern gründet auch eine Uni!

Seit den Plänen der französischen Militärregierung im Sommer 1945, Jugendlichen aus der Pfalz und dem Rheinland das Studieren zu ermöglichen und Schmid im November 1945 mit der Eröffnung einer Hochschule zu betrauen, hatte sich einiges getan. Um einen passenden Standort zu finden, hatte er mehrere Städte bereist. Im engeren Bewerberkreis waren Speyer, Trier, Mainz sowie der Außenseiter Neustadt an der Weinstraße. Dass die Wahl auf Mainz fallen würde, war anfangs überhaupt nicht klar. Die Stadt lag besonders nach dem letzten Bombenangriff im Februar 1945 in Trümmern. Der zukünftige Rektor Schmid sprach sich zunächst für Speyer aus, änderte seine Meinung aber wenig später. Kurz vor Weihnachten erhielt Mainz dann die Zusage. Für die Stadt sprachen unter anderem ihre 300-jährige Universitätstradition sowie ihre zentrale Lage zwischen dem Rheinland und der Pfalz.

Von der Flak-Kaserne zu Deutschlands erster Campus-Uni

Ein weiterer Grund war die im Osten der Stadt gelegene ehemalige Flak-Kaserne – von den Nazis Ende der 1930er-Jahre für die Wehrmacht erbaut. Wo vor wenigen Monaten noch schweres Kriegsgeschütz aufgefahren wurde, sollten jetzt junge Menschen ausgebildet werden.

Bahntrasse vor dem Pharmazeutischen Institut für den Abtransport der Trümmer, 1946
Mehr...
Sulzmann

Im Vordergrund sind die Schienen zu sehen, auf denen der Schutt abtransportiert wurde.

Für das Projekt stellten die Franzosen 800 deutsche Kriegsgefangene zur Verfügung, allesamt gelernte Handwerker beziehungsweise vom Baufach. Es ging dabei nicht um kleine Schönheitskorrekturen: Die Kaserne war nicht zuletzt durch „Plünderung in eine tote Ruine verwandelt worden“, erinnerte sich Prorektor Adalbert Erler später. Daher galt es „[t]ausend Dinge […] in wenigen Wochen anzufordern und herbeizuschaffen“. Die Arbeiten an Deutschlands erster Campus-Uni starteten Mitte Januar 1946 – vier Monate vor Eröffnung!

Doch die Plünderungen hielten trotz der Bauarbeiten und Einzäunung des Geländes an: Noch um Ostern 1946, wenige Wochen vor der Eröffnung, wurden „ganze Wagenladungen wichtiger Gegenstände” abtransportiert. Kein Wunder, angesichts der Notlage der Mainzer Bevölkerung. Selbst in den folgenden Jahren blieb der Campus ein beliebtes Diebstahldomizil. So wurde Ende 1950 in einem Schuppen ein schwerer Bleipanzer entwendet. Was die Einbrecher nicht wussten: Sie nahmen auch gleich einige Proben Radium mit – und sicherten sich damit einen Platz im Jubiläumsband der JGU.

Von Provisorien und Professoren

Anfang März durfte die Mainzer Uni offiziell ihre Tätigkeit wiederaufnehmen und Schmid wurde von den Franzosen zu ihrem ersten Rektor ernannt. Zuvor hatte er bereits die Statuten der Universität Mainz, ihre Verfassung, ausgearbeitet. Darin stand unter anderem, dass er sein Amt vier Jahre ausüben würde. Es sollte aber ganz anders kommen.

Am 19. März hielt der Gründungsrektor dann „unbemerkt seinen ersten Einzug in Mainz“. Zwar waren die Bauarbeiten schon deutlich fortgeschritten, dennoch richtete Schmid sein Büro nicht etwa im Forum Universitatis ein, sondern in der Mainzer Oberstadt: An der Goldgrube 46. Eine Straße, die kürzlich wieder von sich reden machte: Denn dort hat heute auch BioNTech seinen Sitz.

Damit Forschung und Lehre pünktlich starten konnten, gaben sich in den beengten Kellerräumen im Frühjahr 1946 Wissenschaftler aus allen Himmelsrichtungen die Klinke in die Hand. Der Gründungsrektor traf eine Vorauswahl für die Besatzungsmacht, interviewte hierfür potenzielle Professoren – und ja, hier wurde korrekt gegendert: Die ersten Professoren waren allesamt Männer. Aber auch die Studierenden zeigten großes Interesse: Rund 2.000 schrieben sich an der neuen Hochschule ein, dabei war sie nur für ein paar hundert Studis ausgelegt.  

Das Kind braucht einen Namen

Ein wichtiger Punkt auf der To-do-Liste war hingegen lange Zeit offengeblieben: Die neue Hochschule brauchte noch einen Namen. Oberbürgermeister Emil Kraus hatte vorgeschlagen, sie nach dem berühmtesten Sohn der Stadt zu benennen: Johannes Gutenberg. Die französische Militärregierung gab im April ihr d’accord.

Um das zu feiern, spendierte die Stadt gleich auch noch den Gutenberg-Lehrstuhl, den es bis heute gibt. Aber nicht nur das, die Stadt richtete auch ein Stipendium für „finanzschwache“ Studis ein. Generell waren Spenden in der Anfangszeit sehr willkommen, man sogar auf sie angewiesen. So schaffte es sogar die Bibliothek von Reichsleiter Martin Bormann in den Bestand der UB.

Work in Progress

Studentinnen im Wohnheim, 50er Jahre
Mehr...
Philipp Münch

Studentinnen im Wohnheim

Mit der Eröffnung am 22. Mai 1946 waren die Arbeiten bei Weitem noch nicht abgeschlossen, auch die Studierenden mussten zu Beginn nach den Vorlesungen die Ärmel hochkrempeln. Die Mediziner nahmen erst im folgenden Wintersemester ihren Lehrbetrieb auf.

Gerade in der Anfangszeit war die JGU vor zahlreiche Herausforderungen gestellt: So galt es, Unterkünfte für über 2.000 Menschen in der zu 80 Prozent zerstörten Stadt zu finden. Einige hundert Studis fanden in einem provisorischen Wohnheim im Dachgeschoss des Forums Platz.

Neben der geistigen Nahrung musste auch für das leibliche Wohl gesorgt werden – trotz der Lebensmittelknappheit. Wie angespannt die Lage in der Anfangszeit war, zeigt auch, dass Schmid im Sommer 1947 einen schwedischen Journalisten wiederholt um Hilfslieferungen bat. Besonders die Versorgungslage der Professoren war angespannt, da sie überwiegend von auswärts berufen wurden und nicht ausreichend vernetzt waren. Sie litten an Hungerödemen; ihre Kinder erkrankten häufig an Tuberkulose. Aber Not macht bekanntlich erfinderisch: Prorektor Erler hielt beispielsweise ein Mutterschaf auf dem Campus, um seine Familie zu ernähren.

Aus dem Vorlesungsverzeichnis, aus dem Sinn?

Aber damit nicht genug. Die JGU stand in den Anfangsjahren mehrmals kurz vor dem Aus. Durch die Währungsreform 1948 wurden die Bauarbeiten stark eingeschränkt, das Land Rheinland-Pfalz konnte die Uni nicht mehr finanzieren. Nur dank einer Spende der französischen Militärregierung musste sie nicht schließen. Zudem wurde anfänglich noch diskutiert, das Bundesland aufzuteilen, was ebenfalls ihr Ende bedeutet hätte. Erst als Mainz 1950 die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt wurde, konnte man aufatmen.

Dass die Nerven da auch mal blank lagen, ist irgendwie verständlich. Im November 1946 kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kommandant Guy Fournier, der für den Wiederaufbau der Stadt zuständig war, und Rektor Schmid. Weil Fournier 400 Arbeiter von der Baustelle abziehen wollte, soll es sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Schmid wurde daraufhin für kurze Zeit festgenommen.

Obwohl er zunächst als „Mann der Franzosen“ galt, fiel der Rektor bei der Militärregierung zunehmend in Ungnade, musste nach nur drei Semestern seinen Posten räumen. Anfang 1949 wurde sogar ein Dienstenthebungsverfahren eingeleitet, sein Name aus dem Vorlesungsverzeichnis gestrichen.

Ende gut, alles gut?

Nach vier zähen Jahren wurde Schmid schließlich rehabilitiert, blieb der Mainzer Uni als Professor für Geografie bis zu seiner Pensionierung 1966 treu. Grund hierfür könnte sein, dass er unter seinen Kollegen und den Studierenden beliebt war – die Katholische Fakultät verlieh ihm 1947 einen Ehrendoktor. Auch wenn nicht mehr in führender Position, wurde Schmid somit Zeuge, wie die Uni über die Grenzen der ehemaligen Kasernengebäude hinauswuchs, die ersten Frauen zu Professorinnen ernannt wurden und 1956 der erste Nobelpreis an einen späteren Wissenschaftler der JGU ging. Seine Universität war in den Reihen der großen deutschen Hochschulen angekommen.

Als Schmid Mitte Mai 1946 unter Hochdruck die Eröffnung vorbereitete, ahnte er von alledem noch nichts. Vor dem wohlverdienten Feierabend beschäftigten ihn zwei dringende Punkte: Für die kommende Woche stand die Ernennung der Dekane an. Und am Montag musste er seine Eröffnungsrede Wollen und Ziele der neuen Hochschule bei der Militärregierung einreichen. Dass ihn seine To-do-Liste noch eine ganze Weile begleiten würde, machte er sich und seinem Publikum klar: „Noch ist sie [die JGU] nicht vollendet, und sie darf es wohl auch nie werden, wenn sie lebendig und lebensverbunden bleiben soll.“

Ihr wollt mehr über die Geschichte der JGU erfahren? Das Uniarchiv lädt bis zum 7. Juni 2021 zum Schaufensterbummel bei der Schule des Sehens ein. Dort und online könnt ihr in der Ausstellung Das Wunder von Mainz mehr über die Gründungszeit erfahren. Neben kuriosen Anekdoten aus der Unigeschichte wartet dort auch ein echtes Schmuckstück auf euch. Pünktlich zum Jubiläum zündet @JGU_75 auf Twitter am 22. Mai 2021 ein virtuelles Feuerwerk:  Begebt euch mit uns auf eine Zeitreise und seid live bei der Eröffnungsfeier 1946 dabei!

Stefanie Martin
Stefanie Martin

Stefanie Martin arbeitet in der Bereichsbibliothek MIN.

Neuen Kommentar schreiben