In der Mitte des 13. Jahrhunderts begann Rudolf von Ems (gest. 1254?) im Auftrag Kaiser Konrads IV. mit der Arbeit an einer Weltchronik, die die gesamte Geschichte der Menschheit in Versform erzählen und eine Verbindung zwischen biblischem Königtum und dem Herrschergeschlecht der Staufer herstellen sollte. Das Werk sollte den umfassenden Herrschaftsanspruch der Staufer legitimieren, der in ihrem Konflikt mit dem Papsttum in Zweifel gezogen wurde. Rudolfs Weltchronik blieb jedoch unvollendet. Der Dichter spannt den Bogen von der Schöpfung der Welt bis in die Zeit König Salomos, in der der Text unvermittelt abbricht.
Vielleicht war es diese Offenheit des Textes, die gut ein halbes Jahrhundert später die intensive Rezeption von Rudolfs Werk im südwestdeutschen Sprachraum erst begünstigte. Die politischen Konflikte der Jahrhundertmitte hatten ihre Aktualität verloren, und ein volkssprachiges Laienpublikum interessierte sich für den Text vor allem als lebendige Informationsquelle über Gottes Wirken in der Geschichte der Menschheit. Dies bezeugen die illustrierten Abschriften des Textes, deren Bildzyklen sich auf Ereignisse der biblischen Heilsgeschichte beschränken und Rudolfs Exkurse zur außerbiblischen Geschichte übergehen.
Allein im wohlhabenden Zürich entstanden um und kurz nach 1300 mindestens fünf solcher illustrierten Handschriften. Mit seinen 58 meist fast ganzseitigen Miniaturen, ihrem leuchtenden Goldgrund und einer gleichmäßigen Mise-en-page weist der St. Galler Codex Vad. 302 unter den nahezu vollständig erhaltenen, mittelalterlichen Handschriften das höchste Ausstattungsniveau auf. Der Codex umfasst 214 Blatt im Format 30,5 x 21,0 cm. In ihm wird die Weltchronik mit einem Epos über die Figur Karls des Großen verbunden. Bei diesem Text handelt sich um die Bearbeitung des französischen Rolandsliedes durch einen nur unter seinem Beinamen Stricker bekannten Autor der Stauferzeit.
Durch die Verbindung mit dem Karlsepos des Strickers wird der geschichtliche Bogen in der St. Galler Weltchronik von der Zeit Salomos bis in die Entstehungszeit der Stadt Zürich weitergespannt, ohne dass der Weltchroniktext selbst mit regional bedeutsamen Ereignissen ergänzt oder nahtlos fortgesetzt würde, wie es für diese Textgattung durchaus üblich war. Philologisch erweist sich der Vad. 302 somit als weniger individualisiert, als die anspruchsvolle Buchgestaltung zunächst vermuten lassen könnte. Dank eines Fragmentes von Rudolfs Text, das ebenfalls der Hauptschreiber der St. Galler Handschrift verantwortete und dieselben Buchmaler illustrierten, erkennt die Forschung heute im Vad. 302 sogar ein Zeugnis für die Anfänge serieller Buchproduktion im Spätmittelalter.
Samson treibt Füchse mit brennenden Schwänzen in ein Kornfeld/Samson erschlägt ein Heer der Philister mit einem Eselskinnbacken, Rudolf von Ems, "Weltchronik" (Faksimile Luzern, 1982), St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg ms. 302, fol. 122v/123r
Die Universitätsbibliothek Mainz verfügt über einen umfangreichen Bestand von Faksimiles mittelalterlicher Handschriften. Deren Kern bildet das vollständige Verlagsprogramm des Luzerner Faksimile-Verlages, das auf dem Weg der Schenkung seinen Weg nach Mainz fand. Auch wenn in Zeiten der fortgeschrittenen Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften Faksimiles ihre zentrale Bedeutung als niederschwelligen Zugang zu unikalen Überlieferungsträgern weitestgehend eingebüßt haben, bleiben sie dennoch nicht nur als Quelle der Wissenschaftsgeschichte relevant. Anders als Digitalisate ermöglichen die Faksimiles eine sinnlich-körperliche Erfahrung des Buches als Objekt und vermitteln einen Eindruck von Dimensionen und Handhabung. Die Faksimiles der Universitätsbibliothek Mainz sind daher auf Bestellung auf gesonderten Leseplätzen für alle Nutzer:innen zugänglich und laden zum Vergleich mit den verfügbaren Digitalisaten ein. Für die St. Galler Weltchronik ist dies wieder möglich, wenn ihr Faksimile aus der Vitrine in den Tresor der Universitätsbibliothek zurückgekehrt ist. Ein vollständiges Digitalisat der Handschrift steht dauerhaft freizugänglich auf https://www.e-codices.ch/en/vad/0302 zur Verfügung.
Literatur
- Rudolf Gamper, Robert Fuchs, Doris Oltrogge und Jürgen Wolf, Die Weltchronik des Rudolf von Ems und ihre Miniaturen: Illustrierte Weltgeschichten aus dem mittelalterlichen Zürich, Oppenheim am Rhein 2022
- Jaurant Danielle, Rudolfs „Weltchronik“ als offene Form: Überlieferungsstruktur und Wirkungsgeschichte (Bibliotheca Germanica 34/zugl. Diss. Bern 1990), Tübingen 1995
- Jörn Günther, Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften in Versen: Katalog der Handschriften und Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung (Tuduv-Studien: Reihe Kunstgeschichte 48/zugl. Diss. Hamburg 1990), München 1993
- Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen u.a., Kommentar zu Ms 392 Vad., Luzern 1987